Im Herbst 1985 gibt es auf der Neugeborenstation der Leipziger Frauenklinik besondere Vorkommnisse. Vier Neugeborene sterben. Die Klinikleitung kann nicht ausschließen, dass die Kinder vorsätzlich vergiftet wurden.
00:00Städtische Frauenklinik Leipzig, Januar 1986.
00:09Auf der neugeborenen Station kommt es mehrfach zu Unregelmäßigkeiten.
00:15Die Babys sind unruhig und verweigern zu trinken, viele werden krank.
00:21Mitte Januar erkrankt ein drei Tage altes Mädchen so schwer,
00:25dass es auf die Intensivstation der Universitätsklinik gebracht werden muss.
00:30Die Symptome Herzrhythmusstörungen. Das Baby kann gerettet werden.
00:38Doch als wenig später ein zwei Tage alter Junge ebenfalls mit Herzrhythmusstörungen eingeliefert wird,
00:46können die Ärzte in der Universitätsklinik für den Neugeborenen nichts mehr tun.
00:50Das hat uns natürlich sehr verunruhigt damals, aber es gab keine Anhaltspunkte auf spezifische Krankheiten,
01:07die wir hätten ausschalten können zu diesem Zeitpunkt.
01:10Hier im ehemaligen Frauenkrankenhaus in Leipzig kommt es Anfang 1986
01:15zu einer merkwürdigen Häufung von Kindstoden bei Neugeborenen.
01:20Der gute Ruf der Klinik gerät in Gefahr unter den Mitarbeitern des Krankenhauses machen sich zweifelbreit.
01:27Steckt ein Verbrechen hinter den Vorkommnissen in der Klinik?
01:31Das wäre geeignet, Unruhe unter der Bevölkerung auszulösen und so etwas darf es in der DDR nicht geben.
01:37Deshalb muss der Fall schnellen und vor allen Dingen diskret gelöst werden.
01:41Dafür gibt es in der DDR eine Spezialabteilung, die dann tätig wird,
01:46wenn selbst die Volkspolizei von dem Fall nichts erfahren darf.
01:49Das Untersuchungsorgan der Staatssicherheit.
02:02Städtische Frauenklinik Leipzig, Februar 1986.
02:07Immer mehr Babys werden krank.
02:09Die Anzahl der Vorfälle übersteigt die Norm bei Weitem.
02:18Ja, es ist natürlich eine Periode im Leben, die sehr risikobehaftet ist.
02:25Und leider haben wir da auch immer Todesfälle zu verzeichnen gehabt.
02:28Aber das war mehr als gewöhnlich.
02:32Und auch die Ursachen, die wir nicht so genau zuordnen konnten, das war das Beunruhigende.
02:39Am 17. März 1986 stirbt wieder ein kleiner Junge.
02:44Er wurde nur zwei Tage alt.
02:47Schwestern und Ärzte sind langsam ratlos und panisch.
02:51Die Untersuchungen ergeben keinen Hinweis auf die Ursache der Herzrhythmusstörungen.
02:55Trotzdem stirbt ein weiteres kleines Mädchen am 2. April an diesen Symptomen.
03:03Am 10. April muss noch ein kleiner Junge auf die Intensivstation gebracht werden.
03:08Er stirbt noch auf der Fahrt.
03:09Es waren mehrere Kinder hintereinander und es trat immer wieder, weil dort in der Kinderklinik dann auch EKG-Untersuchungen gemacht wurden,
03:19der Verdacht auf eine digitale Überdosierung auf, sodass die Kinderklinik dann bei dem einen Kind praktisch eine toxikologische Untersuchung des Blutes angeordnet hatte.
03:31Und die hat den Nachweis gebracht, dass Medikament im Blut war.
03:39Digitoxin heißt das Medikament, das sich im Blut der Kinder befindet.
03:43Digitoxin ist ein Arzneimittel, das das Herz stärken soll.
03:47Überdosiert aber führt es zu Herzrhythmusstörungen bis zum Kammerflimmern.
03:54Im Blut aller verstorbenen Babys wird Digitoxin in tödlichen Mengen nachgewiesen.
04:02Sind die Säuglinge auf der Kinderstation in Lebensgefahr?
04:17In dem Moment war mir also klar, dass hier praktisch Vergiftungen an den Kindern vorgenommen worden sind.
04:27Aber wer sollte so etwas tun? Wer würde Neugeborene sterben lassen?
04:37Und dann kommt es zu einer weiteren Manipulation.
04:40Das war im März, wo ich zum Ostern, wenn ich mich richtig erinnere, wo ich zum Dienst gerufen wurde, weil alle Kinder schlecht tranken und weil die Kinder sehr unruhig waren.
04:54Viel geschrien haben und erbrochen haben.
04:58Und als ich auf der Station ankam, haben diversierten Schwestern aber schon die Milch gekostet und festgestellt, dass die also total versalzen waren.
05:07Eigentlich normalerweise kann so etwas überhaupt nicht vorkommen.
05:10Und wir standen also vor einem Rätsel.
05:12Die Milch, das war ja Frauenmilch, die wir von der Frauenmilch-Sammelstelle der Universitätskinderklinik bekommen haben.
05:19Und wo dieses Salz in die Milch gekommen war, das war uns zunächst völlig unklar.
05:31Auch der leitende Arzt der Abteilung, Dr. Wolfgang Springer, ist entsetzt.
05:35Sind die Säuglinge in seiner Klinik tatsächlich in Todesgefahr?
05:41Arbeitet der Verbrecher im Kollektiv der Frauenklinik?
05:44Aber an wen soll er sich wenden?
05:50Wenn das bekannt wird, dass auf seiner Station Neugeborene vergiftet werden, würde das auf ihn selbst zurückfallen.
06:00Springer will sich absichern und ruft den Leiter der Stasi-Bezirksverwaltung Leipzig an.
06:05Guten Tag, Major Humitsch. Hier ist Dr. Springer.
06:16Generalmajor Manfred Humitsch rät dem Arzt, Anzeige zu erstatten.
06:21Allerdings nicht bei der Kriminalpolizei, sondern bei der Staatssicherheit.
06:25Es war eine sehr schwere Straftat. Es war eine Straftat, die die Bevölkerung verunsicherte.
06:36Und es war eine Straftat, die eigentlich nicht vorkommen sollte.
06:39Und deshalb geheim gehalten werden musste.
06:42Und da war natürlich klar, dass die Stasi das möglichst in eigener Regie ermittelte.
06:49Und dann eben auch gar nicht die Kriminalpolizei einbezog, weil die, sobald das sozusagen außerhalb der Stasi verhandelt wurde,
07:00war es nach den Maßstäben der Stasi nicht mehr wirklich richtig geheim.
07:06Die Hauptverwaltung Leipzig des Ministeriums für Staatssicherheit, wegen ihrer markanten Form, wurde sie von der Bevölkerung Runde Ecke genannt.
07:14Die Staatssicherheit war in der DDR in Form von Bezirksverwaltungen quasi spiegelbildlich zum Ministerium des Innern gegliedert.
07:24Folgerechtig gab es neben der Volkspolizei auch ein eigenes Untersuchungsorgan der Staatssicherheit,
07:30das dazu da war, bei besonderen Verbrechen sehr schnell zu ermitteln, um den Fall nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
07:38Die schnelle Eingreiftruppe der Staatssicherheit wurde Spezialkommission genannt.
07:44Mit der Spezialkommission steht im MFS rund um die Uhr ein Team hervorragend ausgebildeter Kriminalisten zur Verfügung,
07:58das parallel zur Volkspolizei ermitteln kann und diese gar nicht informieren muss.
08:02Wenn die Staatssicherheit das wollte, konnte sie so ein Fall auf eine Art und Weise untersuchen, dass die Kriminalpolizei gar nicht involviert war.
08:18Die Staatssicherheit war der große Bruder, der letztendlich bestimmte, welche Angelegenheiten es in seinen Zuständigkeitsbereich zog.
08:26Und gilt dann also in den 70er und vor allem in den 80er Jahren als die Deluxe-Abteilung in diesem Bereich.
08:34Und wird deshalb dann auch für Aufklärung besonders schwerwiegender Taten eingesetzt, wo man von vornherein schon wusste,
08:41dass die keinen politischen Hintergrund haben konnten, also wie Serienmorde oder ähnliches.
08:46Auch der Direktor des Leipziger Stasi-Museums, Tobias Hollitz, sei es der Meinung, dass diese Kindstötungen ein Fall sind,
08:56den die Stasi unter keinen Umständen nach außen dringen lassen wollte.
09:00Das heißt, in der öffentlichen Wahrnehmung sind diese Dinge immer wieder verduscht worden.
09:12Also auch normale kriminelle Straftaten, gerade auch Sexualstraftaten, ähnliche Dinge,
09:18die vor Ort ja immer für große Aufregung und für große Verunsicherung in der Bevölkerung gesorgt haben,
09:23hat man in all den Jahrzehnten versucht, so weit wie irgend möglich unter den Deckel zu halten.
09:30Deshalb wird die Untersuchung der Todesfälle ausschließlich der Leipziger Spezialkommission übertragen.
09:37Die Kriminalpolizei wird gar nicht erst informiert.
09:42Bereits am Abend des 10. April 1986, dem Tag, an dem ein weiteres neugeborenes Kind an seltsamen Herzrhythmusstörungen verstirbt,
09:52kommt die Eingreiftruppe in der Frauenklinik zum Einsatz.
09:55Im Gegensatz zur Volkspolizei kann die Spezialkommission auch alle inoffiziellen und geheimdienstlichen Methoden der Staatssicherheit nutzen.
10:06Inoffizielle Hausdurchsuchungen, Abhören und Verwanzen von Telefonen.
10:12Rolf Weinhold war Mitglied der Spezialkommission.
10:15Spezielle Fälle haben wir zu 100 Prozent gemacht.
10:20Da war die Mordkommission gar nicht mit dabei.
10:22Um das ganze Vorfeld hier zu orten, hätten wir die Möglichkeit gehabt,
10:28im Vorteil gegenüber den Polizeibehörden,
10:32dass wir also die zuständigen Diensteinheiten oder Diensteinheit von der Stadtsicherheit hätten befragt,
10:39wer da für das Krankenhaus oder für diesen medizinischen Bereich zuständig gewesen ist zum damaligen Zeitpunkt,
10:45hätten wir die also gefragt, was ist hier im Vorfeld passiert,
10:49was gibt es hier für Verdächtigungen oder für Anhaltspunkte.
10:55Und auch was die Technik vor Ort anbelangt,
10:58ist die Spezialkommission weitaus besser ausgestattet als die Kriminalpolizei.
11:03Und stolz darauf.
11:04In der DDR war ja Mangelwirtschaft, in der DDR gab es halt,
11:10das ging los bei den zuständigen Dienstwagen, also PKWs oder Transporter,
11:16was also bei der Kriminalpolizei sehr eng bemessen war.
11:19Das war teilweise ein Witz, die hatten also ein Spritkontingent,
11:22die konnten also nur so und so viel tanken und dann,
11:26sag ich jetzt mal, humorfrei ausgedrückt, dann musste man mit der Straßenbahn fahren.
11:30Und die sonstige Technik, die der Kriminalpolizei oder auch der Mordkommission,
11:34zur Verfügung stand, also sprich Schallaufzeichnungsgeräte,