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Albanien, einst das Armenhaus Europas, hat sich enorm entwickelt. Umso mehr prallen Moderne und Tradition aufeinander. Auch beim uralten Prinzip der Blutrache, die es im Norden des Landes immer noch gibt.

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Transkript
00:00Ohne Hilfe ist Hrosim Hosei ein toter Mann. Er ist völlig unschuldig, aber er ist in einer
00:08ausweglosen Situation. Und wenn einer helfen kann, dann ist es Bib Wadnikai. Hrosims Söhne
00:16haben einen Mann umgebracht, um die Familienehre wiederherzustellen. Beide sitzen im Gefängnis,
00:22aber die Familie des Ermordeten hat die Blutrache erklärt. Hrosim traut sich seit Monaten nicht
00:29mehr aus dem Haus. Das Eingesperrtsein ist Buße, aber auch Selbstschutz. Denn wenn du das Haus
00:42verlässt, kann ich der Gegner leichter töten. Und laut Kanun hat die andere Seite das Recht,
00:50mich zu töten. Bis zu einem Friedensschluss. Der Kanun ist ein Gesetzbuch aus dem Mittelalter,
01:00das in Nordalbanien immer noch von vielen akzeptiert und als wichtiger angesehen wird als die Gesetze des
01:06albanischen Staates. Schon das Schafe füttern ist für Hrosim lebensgefährlich. Seine Familie dürfen wir
01:12nicht filmen. Die Todesdrohung gilt für alle Männer der Familie und als Mann gilt,
01:16wer größer ist als ein Gewehr. Dieb ist das, was sie hier einen Missionar nennen, ein Vermittler.
01:24Wir haben es geschafft, gemeinsam mit anderen Missionaren aus dem Dorf mit der Familie des
01:36Opfers zu verhandeln. Dadurch haben wir erreicht, dass zwölf Cousins und ihre Familien von der Blutrache
01:45freigesprochen wurden. Nur Hrosim und seine Familie bleiben in Isolation.
01:50Hrosim muss für seine Söhne büßen. Seine Isolation ist total. Er lebt in bitterer Armut,
02:05es gibt kaum Möbel im Haus, aber eine moderne Videoüberwachung.
02:09Es ist Leben oder Tod. Wenn dir niemand hilft, stirbst du an Hunger. Eingesperrt zu sein ist,
02:19als wäre man lebendig begraben. Wenn man nicht arbeitet, hat man nichts zu essen. Ohne Einkommen
02:25kann man nicht überleben. Eingesperrt zu sein, wünsche ich niemanden. Es ist sehr, sehr schlimm.
02:32Yip nimmt uns mit nach Mirdita. Er trifft sich mit Jin Marku, dem bekanntesten Missionar Albaniens.
02:40Die Missionare sind landesweit organisiert. Marku ist ihr Vorsitzender.
02:46Der Kanun ist bis heute eine Gegenkraft zu schlechter Regierungsführung. Er entspricht dem Bedürfnis
02:53des Volkes, Ordnung in der Gemeinschaft zu bewahren. Das betrifft Bildung und gute Verwaltung,
02:58so wie sie früher war. Ein archaisches Rechtsverständnis, das bis heute fortlebt.
03:05Hier in Mirdita, sagt man, liegt die Wiege des Kanuns. Hier wurde er im 15. Jahrhundert zum
03:10ersten Mal kodifiziert. Jahrhundertelang regelte er das Leben in den wilden Bergen Albaniens bis ins
03:16Detail. Der Kanun kennt keine Armee, keine Polizei, keine Gefängnisse, aber dafür die Blutrache.
03:22Mit dem modernen Gesetzbuch Albaniens steht er im Konflikt. Rechtsanwalt
03:27Kuytem Ibrahi kommt selbst aus dem Norden Albaniens. Er kennt den Kanun genau.
03:32Wenn wir einen Rechtsstaat aufbauen wollen und Teil der Europäischen Union werden möchten,
03:38die ihre eigenen Standards und Normen hat, dann ist es nicht akzeptabel, dass in einem Land
03:43mitten in Europa ein mittelalterliches Gesetz wie der Kanun weiterhin in Kraft ist. Nach 800 Jahren.
03:50Stimmt nicht, sagen seine Befürworter. Für sie kennt das Gesetz nur Strafe, der Kanun dagegen
03:59versöhnt. Und dafür fühlen sie sich verantwortlich, die Missionare aus den angesehensten Familien
04:04der Region, so wie Adem Isufi, 92 Jahre alt und eine Legende in Albanien.
04:10Nicht nur Bip selbst, sondern auch seine Familienmitglieder gehören seit Generationen einem Stamm an,
04:18der sich der Friedensvermittlung widmet. Mit einer langen, alten Tradition. Seine Familie
04:25ist die bekannteste der Region, wenn es um Versöhnung und die Achtung edler albanischer Traditionen
04:30geht.
04:31Bip hat das Amt von seinem Bruder übernommen. Wie alle Missionare arbeitet er ehrenamtlich.
04:41Für ihn ist es Ehre und Verpflichtung, zu helfen. Und für Khrossem die einzige Chance.
04:50Die Lösung liegt in den Händen der Missionare. Ich habe sie ihnen überlassen. Der Staat ist
04:57für Strafen zuständig, aber nicht für Lösungen solcher Probleme. Kein Vertreter des Staates
05:03war in den letzten sechs Monaten hier, um zu fragen, ob wir etwas brauchen. Nur die Missionare
05:09und Dorfbewohner haben uns mit Lebensmitteln geholfen.
05:17Zuerst geht es darum, die Betroffenen aus der Isolation zu befreien. Aber eine Blutvergebung
05:24ist etwas ganz anderes. Es braucht viel mehr Arbeit, bevor die andere Partei bereit ist,
05:30das vergossene Blut zu vergeben.
05:33Das kann lange dauern, sagt Bip. Doch er hat Hoffnung. Dennoch, es sind Fälle bekannt,
05:39in denen Blutrache noch sehr spät vollzogen wurde. Nach Jahrzehnten.

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