Berlin gilt in Deutschland als das Zentrum organisierter
Jugendkriminalität. Die Sendung begleitet eine mobile Task
Force - die "Operative Gruppe Jugendgewalt" auf ihren
Einsatzfahrten durch Berlin.
Jugendkriminalität. Die Sendung begleitet eine mobile Task
Force - die "Operative Gruppe Jugendgewalt" auf ihren
Einsatzfahrten durch Berlin.
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00:01Paul S. aus Leipzig gilt als Intensivtäter.
00:05Er war 2012 einer der beiden Anführer der Leipziger Kinderbande.
00:10In einem Interview erzählt er uns, wie er mit seinem Zwillingsbruder
00:14und mehreren Komplizen Einzelhändler im ganzen Stadtgebiet terrorisierte.
00:21Ich konnte schon am Tag meine 200-300 Euro ausgeben.
00:25Als kleiner Rotzer mit 14 ist das eine gute Summe an Geld.
00:30Es war eine der umfangreichsten Raubserien in Mitteldeutschland.
00:34Paul und sein Bruder waren damals gerade mal 13 Jahre alt
00:38und damit noch nicht strafmündig.
00:512012. Eine Gruppe Jugendlicher lungert in der Leipziger Innenstadt herum.
00:56Unter ihnen zwei Brüder, Zwillinge.
00:58Sie geben offenbar den Ton an.
01:01Die Jungs ziehen durch die Straßen,
01:03schauen, wo sich eine günstige Gelegenheit für einen Diebstahl ergibt.
01:07Speckshof ist nicht nur bei Touristen beliebt.
01:11Die Geschäfte verkaufen hochwertige Waren.
01:14Die Jugendlichen vermuten, dass es dort einiges zu holen gibt.
01:18Sie sprechen sich ab, wer welche Rolle übernimmt.
01:20Dann legen sie los.
01:23Ines Beckert, die in Speckshof ein Modegeschäft führt,
01:27wurde damals gleich zweimal von der Leipziger Kinderbande überfallen.
01:31Die haben es immer geschafft, irgendwo so einen Überraschungseffekt hervorzurufen,
01:35wenn sie gar nicht damit gerechnet haben oder wenn sie sich ganz kurz mal umgedreht haben.
01:40Dann standen die da und waren sofort mitten im Raum.
01:42Meist lief es so ab.
01:43Erst betreten einige Jungs den Laden, verwickeln die Verkäuferinnen in ein Gespräch.
01:55Dann, nach und nach, tauchen immer mehr Jugendliche auf.
01:58Die haben sich schon bedrohlich aufgebaut.
02:02Also mit einer hohen Geschicklichkeit und Geschwindigkeit
02:06haben die sich hier durchs Geschäft gestohlen,
02:09haben sich in mein Lager bzw. in meinen Nebenraum
02:13und mit der Begründung, als ich die dann fragte, was sie dort wollen,
02:16mit der Begründung, dass sie eine Toilette suchten
02:18und dass sie einfach mal hier hinter gehen wollten und gucken, was dort noch wäre.
02:22Die eigentliche Tat, das Durchsuchen der Personalräume,
02:25den Diebstahl, das übernehmen meist die Zwillinge.
02:28Sie sind mit 13 Jahren die Jüngsten in der Gruppe.
02:31Doch in diesem Fall wirft die Verkäuferin die Jungs sofort aus dem Laden.
02:35Murrend gehen sie, ohne Beute.
02:38In ein paar Tagen werden sie wiederkommen.
02:40Die Geschäftsleute entwickeln ein Alarmsystem,
02:44um sich gegenseitig zu warnen, sobald die jungen Kriminellen in der Nähe sind.
02:51In der Kalibnichstraße war auch eine ähnliche Alarmkette.
02:54Da hat man es teilweise telefonisch gemacht.
02:55So nach dem Motto, bei uns waren sie gerade, passt mal ein bisschen auf.
03:01Um möglicherweise da das Schlimmste zu vermeiden.
03:05Frank Döring ist Polizeireporter bei der Leipziger Volkszeitung.
03:10Anfang 2012 berichtet er zum ersten Mal über eine Häufung von Ladendiebstählen
03:15und Raubstraftaten im Stadtgebiet.
03:17Wir hatten dann bei der Polizei mal angefragt, ob diese Fälle so weit bekannt sind.
03:22Da war die Rede davon, dass es etwa 80 Fälle sind.
03:26Allein im Jahr 2012, die auf das Konto dieser Bande gehen.
03:30Die bestand damals aus einem harten Kern von etwa sechs Kindern und Jugendlichen.
03:33Und es hat sich auch dann später herausgestellt, dass sie bei der Polizei nochmal nachfragten und sie baten doch nochmal zu recherchieren,
03:41dass es eigentlich dann von über 220 Fällen die Rede war und die dann zumindest aufgenommen wurden.
03:47220 Fälle. Ab Anfang 2012 ist die Kinderwander hauptsächlich im Leipziger Zentrum, in der Südvorstadt und im Bereich Eisenbahnstraße unterwegs.
03:59Überwachungsbilder von einigen der betroffenen Läden.
04:03Zur Schule geht keiner der Täter.
04:05Stattdessen begehen sie in wechselnder Besetzung manchmal fünf, sechs Überfälle an einem Tag.
04:11Immer wieder kommt es vor, dass Ladendetektive oder Security-Leute dazwischen gehen.
04:15Doch der geballten Kraft der Jugendgruppe können sie selten etwas entgegensetzen.
04:25Ihr Jagdrevier, kleine Geschäfte zum Beispiel an der Kalibknechtstraße in der Leipziger Südvorstadt,
04:31aber auch Boutiquen direkt in der Innenstadt.
04:34Seit fast einem Jahr versetzen sie Händler und Ladenbesitzer in Angst und Schrecken.
04:38Es ist beängstigend, echt.
04:40Einer davon hat dann versucht, hier unter der Ladentafel, unter dem Brett unten durchzukommen bis nach hinten.
04:47Der andere Junge ist in der Zeit hinter ins Lager gegangen und hat meiner Verkäuferin aus der Handtasche raus die Geldbörse gestohlen.
04:54Das Verrückte an der Geschichte, die meisten Händler wissen inzwischen, wer die Täter sind, doch sie können kaum etwas ausrichten.
05:02Ein Händler hat mir gesagt, er hat einen dieser Jungen dann mal auf der Straße getroffen und wollte ihn zur Rede stellen.
05:08Warum die das immer wieder tun, warum sie auch bei ihm mehrfach schon im Laden waren und dass sie damit aufhören sollen.
05:15Und der Junge hat ihnen einfach nur angegrinst und hat gesagt, aufhören, warum sollen wir damit aufhören?
05:19Die wussten ganz genau, dass ihnen nichts passieren kann zum damaligen Zeitpunkt.
05:23Die Ladenbesitzer können die jungen Räuber gut beschreiben.
05:27Die Haupttäter der Bande, die Zwillinge, sind bei der Polizei inzwischen bekannt.
05:30Paul und Philipp S. 2012 sind beide 13 Jahre alt und damit noch strafunmündig.
05:37In solchen Fällen erfolgt immer eine Information an das Jugendamt.
05:42Die Eltern werden informiert. Das heißt, wir lassen die Kinder nicht einfach gehen, wenn wir vor Ort eine Straftat festgestellt haben.
05:48Jedes Kind und jeder Jugendliche wird von uns zu den Eltern gebracht. Mit den Eltern wird das Gespräch gesucht.
05:53Wir erklären ihr, was hier passiert ist und versuchen auch auf die Eltern einzuwirken.
05:57Aber in manchen Fällen ist das kaum noch möglich.
06:01Die Zwillinge wachsen in Leipzig-Grünau auf. Es ist ein Stadtteil mit vielen Familien, in denen es Probleme gibt.
06:08Doch nicht jeder, der hier seine Kindheit verbringt, wird zwangsläufig kriminell.
06:13Es geschieht meist dann, wenn mehrere ungünstige Faktoren aufeinandertreffen.
06:17Sommer 2019. In der Jugendstrafanstalt Regis Breitingen treffen wir Paul, einen der beiden kriminellen Brüder.
06:28Zu diesem Zeitpunkt sitzt er in U-Haft. Er hatte versucht, Schulden bei einem Bekannten einzutreiben und ist dabei gewalttätig geworden.
06:35An eine besonders schwere Kindheit kann sich Paul nicht erinnern.
06:42Das Verhältnis zur Mutter eigentlich ganz normal.
06:46Die haben uns nachmittags von der Schule abgeholt.
06:51Mein Vater und meine Mutter haben uns zusammen zum Fußballtraining gefahren.
06:53Wir haben, wenn wir abends zu Hause gegangen sind, zusammen gekocht.
06:58Im Haushalt haben wir normal mitgeholfen.
07:01Als die Zwillinge acht sind, trennen sich die Eltern.
07:062007 vertrat Familienanwalt Rainer Nittmann das Ehepaar vor dem Scheidungsgericht.
07:12Er erinnert sich noch gut an die beiden Jungs.
07:15Ganz normal entwickelte Kinder. Ich habe es mit acht Jahren kennengelernt.
07:19Da waren beide organisiert im Fußballverein.
07:24Hatten also regelmäßig Training, ein oder zweimal die Woche und Punktspiele.
07:29Und da hatten sie also noch ein vernünftiges Hobby.
07:33Doch mit der Scheidung der Eltern gerät die Welt der Zwillinge aus den Fugen.
07:38Das schlimmste Moment, wo es bei mir im Leben eigentlich alles gedreht hat,
07:45war, wo meine Eltern sich getrennt haben.
07:47Ja, da hat mich ziemlich mitgenommen und ein bisschen aus der Bahn geworfen.
07:53Und ja, so ein kleines bisschen in eine andere Richtung gelenkt.
07:59Aus dem kleinen bisschen wird schnell ein langes Strafregister.
08:02Das Jugendamt kennt die Familie und die kriminellen Zwillinge schon länger,
08:06es interveniert aber nur halbherzig.
08:07Siegfried Haller, der damalige Leiter, räumt auf Nachfrage schwere Versäumnisse ein.
08:14Viel zu spät habe man auf die schwierige Familiensituation reagiert.
08:17Man hat ja schon Jahre, bevor diese Serie begann, beide Brüder betreut.
08:23Es gab Sozialarbeiter, die sich um die Jungs gekümmert haben.
08:28Der Jugendamtsleiter berichtete davon, dass die Zwillinge teilweise früh zur Schule gebracht wurden von Sozialarbeitern.
08:33Mit dem Ergebnis, dass die zur einen Tür rein sind und fünf Minuten später zur anderen Tür wieder raus.
08:40Und sich dadurch dann eine massive Anzahl an vier Stunden angehäuft haben.
08:43Kurz und gutes Instrumentarium, was das Jugendamt damals zum Einsatz gebracht hat, war völlig wirkungslos.
08:50In der Folgezeit beginnen die Zwillinge mit Streifzügen durch ihr Viertel.
08:56In Grünau ist es nicht schwer, dabei früher oder später an falsche Freunde zu geraten.
09:02Dann hat man Ältere getroffen, die schon ein bisschen Ahnung hatten vom Kriminellsein, sag ich mal so.
09:09Ja, und hat man dann in der Langeweile ein paar Pläne ausgeheckt.
09:14Haben angefangen, einfache Diebstähle zu begehen.
09:16So oder quasi Schmiere gestanden bei dem Größeren so, haben uns da ein bisschen was abgeguckt.
09:23Ab 2010 kommt die kriminelle Karriere der Zwillinge langsam in Farben.
09:29Sie nehmen andere Jugendliche auf ihre Diebestouren mit, bauen eine erste Bandenstruktur auf.
09:35Es gibt diesen schönen Begriff der Gruppendynamik.
09:38Also wenn sich dann so eine Gruppe zusammen findet, wie das hier ja geschehen ist.
09:43Ausgangspunkt war am Anfang das Allee-Center in Leipzig-Grünau.
09:47Dann fühlt man sich in der Gruppe stärker und traut sich also mehr zu.
09:51Zu Beginn haben vor allem die Einzelhändler im Grünauer Allee-Center unter der Bande zu leiden.
09:55Unseres Diebesgut hat sich aus Elektroartikeln, Handys, Laptops, also Kameras, alles was halt so elektronisch wertvoll ist, sag ich mal.
10:10Und hochwertig im Preis, dann Parfüm, Kosmetikartikel und Tabakwaren halt, weil man die überall zu Geld machen konnte.
10:20Die Beute wird unter allen Mitgliedern geteilt. Ein fettes Taschengeld, an das sich die Jugendlichen schnell gewöhnen.
10:26Ich konnte schon am Tag meine 200, 300 Euro ausgeben. Und ja, als, sag ich mal, kleiner Rotzer, so mit 14 und 13 oder noch jünger, ist das halt schon eine gute Summe an Geld.
10:41Und das war halt auch immer die Verlockung, nächsten Tag wieder weiterzuziehen.
10:46Der Kern der Kinderbande besteht ab 2011 aus fünf, sechs Jugendlichen.
10:51Sie suchen jeden Tag aufs Neue den Adrenalinkink.
10:55Von Grünau aus unternehmen die jungen kriminellen Beutezüge nach Lindenau.
11:00Später dann in die Innenstadt, in die Südvorstadt, Richtung Reutnitz und weiter draußen ins Paunsdorf-Center.
11:06Die Bande schlägt überall dort zu, wo es viele Läden und viele Passanten gibt, zwischen denen man untertauchen kann.
11:16Wir konnten beweisen, dass man, sag ich mal, so in Anführungsstrichen, so ein bisschen das Gangsterleben so, natürlich böse sein.
11:26So, dass man so einen gewissen Ruf legt, so, naja, der ist kriminell, der hat's drauf, so.
11:32Also es war Spaß, Freizeitvertreib und dabei nebenbei noch Geld verdienen.
11:39Spätestens Anfang 2012 hätte für Schule und Behörden klar sein müssen, mit Paul, Philipp und den anderen Jugendlichen stimmt etwas nicht.
11:47Berlin-Marzahn, auch ein Problemviertel. Noch häufiger als in Leipzig schließen sich hier Jugendliche zu kleineren Banden zusammen und begehen gemeinsam Straftaten.
12:01Wir begleiten die operative Gruppe Jugendgewalt, eine Einheit der Berliner Polizei, die in verschiedenen Bezirken gerade diese jungen Straftäter im Auge behält.
12:13Sascha ist seit 14 Jahren bei dieser Einheit. Björn und seine Kollegin Sina ein paar Jahre weniger.
12:19Es geht ihnen darum, frühzeitig zu erkennen, wo Probleme hochkochen, wo sich Bandenstrukturen entwickeln. Da wird ein Überfall gemeldet.
12:30Also, Tatsache vor drei Minuten. Vier Jugendliche haben ein Portemonnaie geraubt.
12:36Alle Jugendlichen zwischen 16 und 20 Jahre alt. Zwei mit schwarzen Jacken, einer mit einer hellen Jacke.
12:42Flucht Richtung Wohngebietstag. Der Anrufer vermutet, S-Bahnhof, Frau-Sallenberg-Straße. Mehr zur Täterbeschreibung habe ich noch nicht.
12:51Die Beamten fahren zum Tatort. In einem Park haben Jugendliche einen Mann niedergeschlagen und seine Geldbörse geraubt. Die Räuber sind längst verschwunden.
13:03Das Opfer, im braunen Mantel, ist benommen, kann den Beamten aber eine grobe Täterbeschreibung geben.
13:10Sascha zeigt dem 30-Jährigen ein paar Fotos von Jugendlichen, die in der Gegend schon häufiger aufgefallen sind.
13:16Falls dir irgendjemand bekannt vorkommt und du sagst, das war der, dann sagst du mir auch Bescheid.
13:21Okay.
13:23Das ist ja der Vorteil von Dienststellen, wie wir sie sind. Wir haben halt fast immer mit denselben Leuten zu tun.
13:28Es sind natürlich auch wieder Ausnahmen dabei, die neu dazukommen und welche, die irgendwann verschwinden.
13:32Aber den Großteil unserer Leute kennen wir halt und die machen es uns hin und wieder einfach, indem sie halt tatsächlich ihren Bereich nicht verlassen.
13:40Über 100 Fotos sieht sich der Überfallene an. Doch leider sind die Täter nicht dabei.
13:45Die Kripo der Direktion 6 wird die Fahndung fortsetzen.
13:49In Berlin gibt es rund 220 Personen zwischen 14 und 21 Jahren, die bei der Polizei als Intensivtäter geführt werden.
13:57Einen davon wollen Sascha und seine Kollegen an diesem Nachmittag noch besuchen.
14:02Der 18-Jährige hat gerichtlich angeordnete Sozialstunden ohne Grund abgebrochen und soll nun zu einer besseren Zusammenarbeit mit der Polizei aufgefordert werden.
14:11Mit dem gerade stattgefundenen Raub hat er allerdings nichts zu tun.
14:16Polizeilich ist erst mal aufgefallen im Jahr 2014, da war er 13 Jahre alt und danach hat er niederschwellige Straftaten begangen, Ladendiebstähle und seit 2017 ist er deutlich intensiver aufgefallen mit schweren Raubstraftaten.
14:33Unter anderem auch mit dem Einsatz einer Schreckschusswaffe, da sind auch Opfer stark zu Schaden gekommen, weil er viel Gewalt angewendet hat.
14:42Die Polizisten treffen den jungen Mehrfachtäter tatsächlich in der elterlichen Wohnung an und können längere Zeit mit ihm sprechen.
14:49Er will die restlichen Sozialstunden nun ableisten und gelobt Besserung. Doch ist das glaubhaft?
14:58Grundsätzlich gehe ich immer davon aus, dass ich nicht angelogen werde und dass das natürlich glaubhaft sein wird.
15:02Er wird sich halt messen lassen müssen an dem, was er gesagt hat. Vieles hängt von seinem sozialen Umfeld ab.
15:08Er hat ein eigentlich gutes Elternhaus. Sämtliche Unterstützung, die er bekommen kann, die Eltern einen bieten können, bekommt er dort.
15:16Er hat allerdings problematische Freunde und wenn er diesen Freundeskreis durchbricht und sich neue Freunde sucht und die alten Adapter legt,
15:23dann ist durchaus möglich, dass er seine Worte einhält und dass er seine Versprechen einhält. Das werden wir dann aber sehen in der Zukunft.
15:32Zurück nach Leipzig. Im Mai 2012 werden die Zwillingsbrüder Paul und Philipp 13 Jahre alt.
15:39Sie und ihre Freunde haben inzwischen eine gewaltige Anzahl an Straftaten angehäuft.
15:44Die jungen Täter wissen genau, dass ihnen bis zum 14. Lebensjahr juristisch nicht viel passieren kann.
15:49An manchen Tagen werden die Zwillinge gleich mehrfach aufgegriffen, mitunter fünf, sechs Mal hintereinander.
15:58Wir haben immer, wenn uns die Polizei nach Hause gefahren hat, eigentlich nur gewartet, bis die Polizei wieder losgegangen ist.
16:05Und dann sind wir eigentlich auch wieder rausgegangen und haben uns mit unserer Gruppe getroffen.
16:10Das war bei allen so. Wir haben uns dann meistens noch im, sag ich mal, in dem Büro von der Polizei,
16:15haben wir uns schon untereinander abgesprochen und haben gesagt, ja, hier, wenn du dann zu Hause abgesetzt wirst, sagst du Bescheid, rufst mich an, treffen wir uns gleich wieder.
16:24Und das war meistens immer so.
16:26Die Polizei kann nahezu nichts ausrichten.
16:29Wichtig war, dass das Jugendamt hier hätte eingreifen müssen, dass es hier Maßnahmen frühzeitig gegeben hätte, die eingreifen und dafür sorgen, dass die Zwillinge getrennt werden,
16:40raus aus diesem Milieu kommen und woanders untergebracht werden.
16:44Doch das geschieht nicht.
16:46Wir wollen vom Jugendamt wissen, warum damals nicht eingegriffen wurde.
16:50Schriftlich teilt man uns mit, dass aus Datenschutzgründen keine Aussagen getroffen werden können.
16:57Die Zwillinge und ihre Komplizen geben ihr Geld inzwischen auch für Drogen aus.
17:01Zunächst nur für Marihuana, dann auch für Crystal.
17:04Weil das ja eine pushende Droge ist, haben wir das halt meistens genommen zum Straftatenbauen, weil das die Gefühle halt ein bisschen abschreckt, so abstellt.
17:15Man verliert seine Hemmungen und ja, es war halt meistens eigentlich nur zum Straftatenbegehen.
17:22Im Mai 2013 werden die Zwillinge 14 Jahre alt und sind damit schuldfähig.
17:27Sie machen aber trotzdem weiter, wollen ausreizen, wie weit sie gehen können.
17:32Sie erreichen einen hohen Bekanntheitsgrad in der Szene, posten Fotos auf Facebook, sind gut vernetzt.
17:40Manche sagen organisiert.
17:43Es gab auch oft Leute, die uns angeschrieben haben, die halt auch ab und zu mal straffällig geworden sind.
17:50Wir hatten auch Fragen bekommen, ob mal Leute mit uns mitgehen können sozusagen, wenn wir Scheiße bauen gehen.
17:56Nach ihrem 14. Geburtstag dauert es nicht lange, da werden sie nach einem Diebstahl in Grünau schließlich festgenommen.
18:03Scheiße!
18:04Danach erwischt es auch ihre Komplizen.
18:07Mir war klar, dass irgendwann der Punkt kommt, wo dann, sag ich mal, Schluss ist mit dem so.
18:12Also ich habe mich schon ein bisschen gefürchtet vor dem Moment. Und zwar kein gutes Gefühl.
18:19Die Prozesse gegen die Bandenmitglieder finden vor der Jugendkammer statt. Sie dauern jeweils nur wenige Tage.
18:25Die Mutter eines Angeklagten ist über das Ausmaß der Taten entsetzt.
18:29Ich muss Ihnen ehrlich sagen, mir tut das leid erst einmal für die Leute, wo sie die Diebstähle begangen haben in die Läden, das Geld zu stehlen oder anderes, also Handy. Mir tut das leid.
18:44Im Jugendstrafrecht gilt, Erziehung vor Bestrafung.
18:48Doch das richtige Maß zu finden, um einen Jugendlichen davor zu bewahren, immer mehr Straftaten zu begehen, ist schwer.
18:53Karin Würden von der Leipziger Jugendgerichtshilfe hat es dennoch jeden Tag versucht.
18:59Sie hat Familien, wenn ein Kind mit dem Gesetz in Konflikt kommt, beraten und begleitet.
19:05Umso länger die Strafhaft ist, umso schwieriger ist natürlich die Integration wieder ins gesellschaftliche Leben.
19:12Sie können also als Jugendliche nicht Krisen erleben, die können nicht Situationen miterleben, die jeder Jugendliche selber bewältigen muss im normalen Leben.
19:23Im normalen Alltag. Das wird ganz einfach in der Haft geregelt.
19:28Und die werden dann natürlich auch sehr unselbstständig, wenn sie rauskommen.
19:32Umso schwieriger ist es dann natürlich, die Integration wieder vorzubereiten.
19:37Genau das hat bei Philipp und Paul nicht funktioniert.
19:41Die Haft ist oft das letzte Mittel der Wahl.
19:43Vorher versucht die Justiz mit Bewährungsstrafen, Arbeitsstunden oder einem sogenannten Warnschuss-Arrest eine Besserung herbeizuführen.
19:52Man sollte wirklich gucken, was ist für den Jugendlichen sinnvoll, wo kann man seine Entwicklung beeinflussen, wo kann man wirklich ihn versuchen, es selbst zu motivieren, für sich Verantwortung zu übernehmen.
20:09Das hat nicht mit Strafen. Der Arrest als solches bringt keine Wirkung. Das ist also auch bewiesen.
20:17Das Leipziger Landgericht findet, so muss man es im Nachhinein sagen, nicht den richtigen Weg für Paul und Philipp.
20:23Der anfängliche Schrecken vor Gericht zu stehen, ist bei den Zwillingen schnell verflogen.
20:29Wir waren schon eher eigentlich stolz drauf, sag ich mal so.
20:33Wir haben schon, dann konnten halt sagen, ja hier, guck mal, das war unsere Bande, da hast du gesehen in der Zeitung, wir waren auf dem Titelblatt.
20:41Also wir haben uns schon, sag ich eigentlich mal, alle, kann ich für die ganze Gruppe sprechen, eigentlich schon ein gutes Gefühl damit.
20:48Das Urteil, das im Namen des Volkes gegen die Zwillinge verhängt wird, ein Jahr Jugendhaft auf Bewährung.
20:56Nach der Urteilsverkündung dürfen die Angeklagten nach Hause.
21:00Wir sind halt immer davon ausgegangen, dass wir direkt in den Knast gehen, deswegen waren wir eigentlich relativ glücklich immer.
21:08Als wir dann mit, sag ich mal, einer Verwarnung oder einer Bewehrungsstrafe davon gekommen sind, bin quasi aus dem Gericht rausgegangen und hab halt mir gedacht,
21:16naja, obwohl ich jetzt strafmündig bin, geh ich trotzdem nicht direkt in den Knast und ja, deswegen hatte ich so die Hoffnung, dass ich halt sozusagen immer wieder noch eine Chance kriegen kann.
21:29Unter den geschädigten Einzelhändlern sorgte das Urteil für heftige Diskussionen.
21:34Einige Leute haben gesagt, die sind zwar so jung, aber wenn sie Straftaten begehen wie große, dann muss man sie auch entsprechend verurteilen.
21:41Also Leute, die am Tag sechs Straftaten begehen, bleiben auf freiem Fuß, ihnen kann nichts passieren.
21:46Das ist natürlich dann für viele Leute in der Bevölkerung schwer nachvollziehbar.
21:49Das war so eine, denke ich, eine öffentliche Debatte, aber ich denke, damit musste man dann auch irgendwo leben.
21:54Ja, man kann ja jetzt nicht anfangen und sagen, die, man fängt jetzt schon an, 12- und 13-Jährige einzusperren. Das kann ja auch nicht der Sinn der Sache sein.
22:03Die Polizisten von der operativen Gruppe Jugendgewalt in Berlin sind manchmal auch Sozialarbeiter und Schlichter.
22:11Je später ein Jugendlicher Konsequenzen seines Handelns spürt, so der Leiter Sascha R.,
22:15je länger er in seinem kriminellen Umfeld bleibt und vor allen Verpflichtungen fliehen kann, desto schwerer wird es, ihn später zurückzuholen.
22:26Wenn jemand partout das nicht will, dann können wir ihn auch nicht dazu zwingen.
22:30Wir können ihm als Gesellschaft halt sagen, okay, du hast eine Grenze überschritten und jetzt klettern wir die Treppe höher und die Strafen werden halt härter und länger.
22:38Aber wenn er das nicht will, dann haben wir da auch keine Chance an diese Person ranzukommen.
22:41Wir sollten es natürlich immer weiter probieren, vielleicht setzt irgendwann ein Undenken ein.
22:45Gerade bei Jugendlichen soll es ja das tatsächlich geben, dass man reifer wird und dass man sichtweisend verändert.
22:52Das ist auch völlig in Ordnung und das soll so sein. Also immer weiter probieren.
22:56Für die kriminellen Zwillinge aus Leipzig gab es in der Vergangenheit viele Versuche einer Resozialisierung.
23:02Sie leisteten Sozialstunden, wurden in Erziehungseinrichtungen untergebracht, doch mit Diebstählen und Raubüberfällen hörten sie nicht auf.
23:112014 werden sie erneut festgenommen und wandern mit 15 Jahren das erste Mal ins Gefängnis.
23:17In die Jugendstrafvollzugsanstalt Regis Breitingen. Paul bekommt ein Jahr und acht Monate Haft.
23:24Einen Teil der Strafe verbringt er ab Mitte 2014 in diesem Erziehungs- und Trainingscamp in Diemelstadt bei Kassel.
23:31Hier wird viel Sport gemacht, das liegt Paul.
23:35Der Verein Durchboxen im Leben e.V. will schwierigen Jugendlichen helfen, ihre Energie in andere Bahnen zu lenken.
23:42Wir nehmen die Jugendlichen hier für sechs Monate an und zwar so wie sie sind.
23:49Und wir begleiten durch Eskalationen, durch Krisen und sicherlich mit einer reflektierenden Distanz auch.
23:55Aber wir sind in der Lage, durch unsere Mitarbeiter diese Jugendlichen mit ihrem Verhalten erstmal einzunehmen.
24:03Ohne da jetzt gleich immer zu kritisieren oder den Jungs ein schlechtes Gewissen einzureden, sondern wir sagen wirklich, wenn du hierher kommst, ist uns das, was du vorher gemacht hast, erstmal egal.
24:11Wir nehmen dich so, wie du bist.
24:12In dieser Atmosphäre einer respektvollen Gemeinschaft fügt sich Paul schnell ein.
24:18Die Betreuer fördern und unterstützen seine Fähigkeiten, hören ihm zu. So etwas kannte Paul bisher nicht.
24:25Er war denen gegenüber ehrlich, hat über seine Probleme auch gesprochen, hat auch seine Drogensucht nicht verheimlicht, sondern er war zugänglich.
24:33Und wir haben also durchgehend das Gefühl gehabt, dass er sich hier wohl gefühlt hat.
24:38Also es gab da überhaupt keine Probleme mit ihm, kleinere Regelverstöße, aber ansonsten hatte der hier eine gute Zeit.
24:45Er hatte zwei Heimaturlaube, die sind erfolgreich verlaufen, ohne Drohung.
24:49Für kurze Zeit normalisiert sich Pauls Leben. Er geht zur Schule, will weg von der kriminellen Schiene.
24:54Das hat eigentlich relativ viel gebracht, muss ich sagen, weil ich danach eine Zeit lang auch keine Straftaten begangen habe.
25:07Ja, aber ich habe halt zu schnell wieder Anschluss gefunden bei meinen alten Freunden.
25:14Und ja, es war halt das, was es mir gebracht hat, war halt nur auf kurze Dauer.
25:19Als er das dritte Mal nach Hause darf, holt ihn sein Altersleben wieder ein.
25:25Er und seine Freunde ziehen herum und nehmen Crystal.
25:29Das ist halt schon eine Droge, die äußerst abhängig macht, von der man sich nicht einfach trotz guter Vorsätze lossagen kann.
25:38Das ist das Problem. Wenn sich die Gelegenheit bietet, und das ist immer unsere Angst, wenn sich dann die Gelegenheit bietet, insbesondere im alten Umfeld,
25:45wenn man die Leute wieder trifft, die ähnliche Strukturen gelebt haben, dann kann es sein, dass er halt nicht wiederkommt.
25:52Und genau das ist leider beim Paul passiert.
25:55Resozialisierungsmaßnahmen sind teuer. Der Erfolg ist ungewiss.
26:00Jeder Tag, den ein Jugendlicher in einer Maßnahme verbringt, kostet zwischen 200 und 400 Euro.
26:06Doch auch die Haft kostet den Steuerzahler Geld. Jedoch nur etwa halb so viel wie eine Erziehungseinrichtung oder Therapie.
26:13Doch werden die jungen Kriminellen rückfällig und rund die Hälfte wandert früher oder später wieder in den Knast, dann summieren sich die Kosten schnell.
26:23Paul hat die Konsequenzen seiner Taten lange nicht hinterfragt.
26:29Zu lange konnte er in seiner eigenen Welt aus vermeintlichem Abenteuer und Spaß leben.
26:35Eine Welt, in der ihm niemand konsequent Grenzen aufgezeigt hat.
26:39Karin Würden, damals Leiterin der Leipziger Jugendgerichtshilfe, weiß, wie wichtig es daher ist, Kindern schon frühzeitig Grenzen aufzuzeigen.
26:48Es lohnt nicht, mit einer Präventionsmaßnahme mit 12, 13, 14 anzufangen, wo schon viele Verhaltensweisen sich verfestigt haben.
26:57Und dann, man danach erst versucht, hier so ein Werdenomenverständnis aufzubauen. Das ist ganz, ganz schwierig.
27:082017 werden Paul und Philipp 18 Jahre alt. Von nun an werden sie nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt.
27:16Paul hat seitdem kaum noch Zeit in Freiheit verbracht. Die Zwillinge, die sich immer sehr nahe standen, sehen sich nun kaum noch.
27:222017 nutzt Paul die Haft, macht den Hauptschulabschluss und beginnt eine Lehre.
27:29Im Sommer 2019 ist Paul 20 und sitzt zum dritten Mal im Gefängnis, wegen Freiheitsberaubung und Körperverletzung.
27:36Er sagt uns, dies solle sein letzter Gefängnisaufenthalt sein.
27:45Hochbaufahrarbeiter ist der Beruf, den ich erlernen will. Und ja, also ich bin auch zielstrebig dran, den hier abschließen zu wollen.
27:56Im Herbst 2020 kommt Paul auf Bewährung frei, begeht wieder Diebstähle und muss weitere 16 Monate hinter Gitter.
28:06Untertitelung des ZDF für funk, 2017
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