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Fast alle Flüchtlinge erleben auf ihrem Weg nach Europa Schreckliches. Ihr Trauma wird oft nicht ernstgenommen, und notwendige Hilfe bleibt aus.

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Transkript
00:00Musik
00:00Jedes Jahr machen sich viele tausend Menschen auf nach Europa.
00:11In der Hoffnung auf ein besseres Leben.
00:13Sie gehen damit ein großes Risiko ein.
00:15Unterwegs drohen sie zu ertrinken, Kidnappern, in die Hände zu fallen, zu verhungern, brutale Gewalt zu erfahren.
00:22Wenn sie ankommen in Europa, ist dann der Kampf vorbei?
00:25Die Erlebnisse auf ihren Reisen sind oft traumatisch. Wie gehen sie damit um?
00:28Ich sehe das alles in meinen Träumen bis heute. Und dann wache ich auf, voller Angst, wo ich enden werde.
00:37Wie lange dauert diese psychische Belastung an?
00:41Manchmal, wenn die Erinnerungen hochkommen, bin ich wie eine andere Person, völlig deprimiert, völlig außer Kontrolle.
00:46Musik
00:47Bevor ich hierher kam, war es meine einzige Angst, zu ertrinken.
01:05Als ich auf dem Boot war, dachte ich vor allem an meinen Sohn.
01:08Ich schaute nach oben zum Himmel, alles um mich herum war schwarz.
01:14Wir alle hatten Angst, die Wellen wurden immer höher, das Boot schaukelte, Wasser schwappte herein.
01:19Der Geruch von Benzin, gemischt mit Wasser, furchtbar.
01:23Nichts als Wasser um dich herum, nichts als Dunkelheit und der laute Außenbordmotor.
01:28Leute, die schreien, andere weinen. Ein Gefühl, das sich kaum beschreiben lässt. Man muss das erleben.
01:37In diesen Momenten der Verzweiflung dachte ich, dass ich es nicht schaffen werde.
01:41Und dass ich einer jener sein würde, von denen ich gehört hatte, ertrunken im Meer. Nur eine Zahl in den Nachrichten.
01:48Mohammed floh aus seiner Heimatstadt Aleppo, zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, vor zehn Jahren.
01:55Zunächst floh er in den Libanon. Dort fand er Arbeit als Kameramann, heiratete, bekam einen Sohn.
02:01Mohammeds Sohn wurde mit einer schweren Durchblutungsstörung des Gehirns geboren.
02:05Infolgedessen leidet er heute an schweren körperlichen Beeinträchtigungen.
02:122024 entschied sich Mohammed schweren Herzens, seine Familie zurückzulassen und sich aufzumachen nach Deutschland,
02:17über die gefährliche Mittelmeerroute.
02:20Sein Ziel war, seine Familie später nachzuholen, damit sein Sohn in Deutschland eine bessere medizinische Behandlung erhält.
02:31Je länger das dauert, desto geringer die Chance, dass er gesund wird.
02:35All das belastet mich sehr. Mein Sohn wächst und wächst und ich bin nicht da.
02:40Anderthalb Jahre bin ich nun schon von ihm getrennt. Er hat fast vergessen, dass er einen Vater hat.
02:47Auf seiner Reise nach Europa durchquerte er Ägypten und Libyen. Dort lebte er wochenlang in der Hand von brutalen Menschenschmugglern,
03:00in der Hoffnung auf ein löchriges Boot, das ihn übers Mittelmeer bringt.
03:04Im Dezember 2024 ist es soweit. Gemeinsam mit 260 anderen Flüchtlingen wird Mohammed gerettet.
03:10Helfer der italienischen NGO Emergency bringen sie in Sicherheit.
03:16Roberto Maccaroni ist seit vier Jahren hier der medizinische Koordinator.
03:20Wir müssen jeden Tag einen allgemeinen medizinischen Bericht an die Behörden auf dem Festland schicken.
03:27Und normalerweise schreiben wir, der allgemeine medizinische Zustand ist gut.
03:34Von einem klinischen Standpunkt aus stimmt das auch, aber niemand würde sagen, dass der Zustand dieser Leute gut ist.
03:41Den psychischen Status einzuschätzen, ist nicht einfach. Diese Leute haben Folter erlebt, Verfolgung, Gewalt und das teilweise über Jahre hinweg.
03:53Sie bringen alle ein Trauma mit. Alle.
03:58Manchmal fällt einem ein seltsames Verhalten auf. Manche sonnen sich ab. Andere fangen an zu weinen. Kinder, die völlig verstummt sind.
04:07Rund 250.000 Menschen sind 2024 über irreguläre Routen nach Europa gekommen.
04:16Wenig überraschend, Traumata und psychische Probleme sind unter Flüchtlingen weit verbreitet.
04:22Eine aktuelle Studie über syrische Flüchtlinge stellte fest, dass 43 Prozent von ihnen unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden
04:30und 40 Prozent unter einer Depression, also eine zehnmal höhere Rate als bei der Durchschnittsbevölkerung.
04:37Während Mohammed sich inzwischen durch das komplizierte Asylverfahren kämpft und versucht, seine Familie nach Halle in Ostdeutschland zu holen, geht es ihm psychisch immer schlechter.
04:49Er bekommt die Bilder seiner Flucht nach Europa nicht aus dem Kopf und leidet zunehmend unter seiner Einsamkeit.
04:54Leider lebe ich zurzeit ein sehr einsames Leben. Ich bin allein. Ich koche etwas zu essen, telefoniere mit meinem Sohn, eine Stunde oder so, dann gehe ich schlafen.
05:05Mein Leben besteht aus Routine. Es ist eine grausame Form von Einsamkeit. Leider.
05:10Normalerweise ist es doch so, wenn jemand von der Arbeit nach Hause kommt, ist da seine Familie. Das hilft mental, es reduziert den Stress.
05:19Leben besteht aus. Leben besteht aus Gemeinsamkeit. Wenn ein Mensch nicht sozialisieren kann, einsam ist, kann ihn das töten.
05:29Laura Lupe ist eine Psychologin aus Venezuela. Sie kam vor zehn Jahren nach Spanien.
05:39Zunächst denkt niemand an dich. Man fühlt sich einsam, kraftlos, dass man nichts machen kann.
05:50Dann kommt die zweite Phase. Du versuchst, dich zu integrieren, Bekanntschaften zu machen, Netzwerke aufzubauen.
05:57So etwas zu schaffen, ist unheimlich wichtig. Es ist ein Schutz.
06:01Der Mensch braucht einfach Verbindung. Jemanden, der an einen denkt, damit man nicht allein ist mit seinen Gedanken, seinen Erinnerungen und Traumata.
06:18In den ersten beiden Monaten habe ich nach einem Job gesucht oder auch einer unbezahlten Arbeit. Das hat geklappt.
06:24Ich unterrichtete an einer Schule syrische Kinder. Wir versuchen zu arbeiten, wir lernen die Sprache, wir machen alles, was er ist.
06:31Wir machen alles, was helfen könnte, uns hier zu integrieren.
06:39Mit das Wichtigste für Migranten ist es, dass sie arbeiten können. Arbeit ist Teil deiner Identität.
06:48Etwas, das dich ausmacht, deinem Leben einen Sinn gibt, dass du dem Land etwas geben kannst und dir auch einen Neustart ermöglicht.
06:55Meine psychischen Probleme, mein ständiges Nachdenken hatte dann auch körperliche Auswirkungen.
07:03Ich konnte überhaupt nicht mehr schlafen. Nach ein paar Tagen bin ich kollabiert und ein Notarzt brachte mich ins Krankenhaus.
07:12Seit vier Monaten ist das so. Die meisten Ärzte sagen mir, das ist nur der Stress, denkt nicht so viel nach.
07:17Die Leute sind in einer Art Überlebensmodus und registrieren vielleicht nicht immer alles, was mit ihnen gerade passiert.
07:30Ich weiß schon, dass es nicht gesund ist, der Stress und das alles. Als jemand, der erst seit kurzem hier ist, weiß ich nicht, wie und wo ich Hilfe finden kann, bei psychischen Problemen dieser Art.
07:45Auch Jahre nach ihrer Ankunft in Europa müssen Flüchtlinge mit ihren Traumata weitgehend alleine klarkommen.
07:59Arif Mezat ist 28 Jahre alt. Er floh aus Afghanistan als 2021 die radikal-islamischen Taliban erneut die Macht an sich rissen.
08:08Er schaffte es auf einen spanischen Evakuierungsflug und kam so nach Madrid.
08:13Ein Neuanfang. Ohne Freunde, ohne Familie, ohne Arbeit oder auch nur etwas Zeit, das Erlebte zu verarbeiten.
08:24Das Gefühl der Einsamkeit hatte ich vom ersten Moment an. Ich hatte Angst, fühlte mich völlig verloren.
08:30Ein anderes Land, eine andere Kultur, keine Möglichkeit, mit den Leuten zu kommunizieren.
08:34Ich wusste einfach nicht, was ich machen sollte.
08:38Ein Monat später oder zwei Monate zeigen sich dann all die Traumasympome.
08:46Maria Angeles Plaza ist Psychologin bei der Spanischen Kommission für Flüchtlingshilfe.
08:52Sie arbeitet seit mehr als 20 Jahren in Madrid mit Geflüchteten.
08:57Sie müssen immer wieder ihre schmerzhaften Geschichten und Erinnerungen erzählen.
09:04Der Asylbehörde, dem Anwalt, dem Psychologen, den Sozialarbeitern. Immer wieder. Und das ist sehr retraumatisierend.
09:14Also normalerweise sprechen Flüchtlinge nicht über das, was passiert ist.
09:19Heute, nach fast vier Jahren, spricht Arif fließend Spanisch, hat Freunde und einen neuen Beruf, den er mag.
09:31Doch das, was er beim Verlassen von Afghanistan erlebt hat, ist nie weit weg.
09:36Und die Erinnerungen daran lösen jeden Tag starke Beklemmungen bei ihm aus.
09:40Das Trauma, die Depression kommt zurück. Ich möchte dann etwas kaputt machen. Ich verletze mich mit Nadeln.
09:48In Afghanistan habe ich schon lange mit meiner Beeinträchtigung gelebt.
09:52Als er zehn Jahre alt war, trat Arif auf eine Mine in der Nähe von seinem Elternhaus.
09:59Die Explosion kostete ihn das rechte Bein und fast das Leben.
10:04Als amputierte Person in Afghanistan aufzuwachsen, ist sehr schwer.
10:08Alle behandelten mich, als ob ich kein Mensch bin.
10:12Nach und nach habe ich mich an all die negativen Kommentare gewöhnt.
10:15Ich glaube, das Trauma, als Kind ein Bein zu verlieren, hat zu den psychischen Problemen, die ich als Erwachsener habe, beigetragen.
10:27Man muss das ganze Bild sehen.
10:29Man muss verstehen, dass der Körper der Geflüchteten vielleicht angekommen ist und vielleicht sogar gesund ist, funktioniert.
10:36Aber dass der Geist oft länger braucht und das Erlebte erst einmal verarbeiten muss.
10:40Vor ein paar Monaten habe ich plötzlich eine sehr seltsame und starke Panikattacke bekommen.
10:48Ich bin dann sogar ins Krankenhaus, aber dort haben sie mein Problem nicht ernst genommen.
10:53Sie haben mir dann einen Termin beim Psychologen besorgt, aber der war erst in sechs Monaten.
11:00Wir haben einfach nicht genug Ärzte und genug Hilfe.
11:05Mentale Gesundheit ist ein Menschenrecht. Man muss sich um diesen Teil der Gesellschaft kümmern.
11:10Diese Traumata, diese Gefühle, die negativen Gefühle, die gehen einfach nicht weg, die bleiben für eine lange Zeit.
11:20Ich versuche, meine Probleme mit Freunden und meiner Familie zu teilen.
11:25Ich spreche mit meiner Mutter darüber, mit meinen Geschwistern. Ich bete.
11:31Man kann schon etwas machen, wenn die Angst kommt, die Depression.
11:34Zurück nach Deutschland.
11:39Mohammed kämpft nach wie vor mit Einsamkeit und Unsicherheit. Beides belastet ihn.
11:44Und er weiß, dass sich das nicht so schnell ändern wird.
11:47Das Wichtigste für mich ist, meinen Sohn wiederzusehen, meine Frau wiederzusehen und zusammen in einem sicheren Land zu leben.
12:00Immer wenn ich etwas Freizeit habe, gehe ich an einen ruhigen Ort, an einen See oder einen Fluss und denke an sie.
12:06Werden wir uns in den kommenden Jahren wiedersehen? Oder nicht?
12:15Werden wir uns in den kommenden Jahren wiedersehen? Oder nicht?
12:15Werden wir uns in den kommenden Jahren wiedersehen.
12:29Untertitelung des ZDF für funk, 2017

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